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Das Thema ist aus Schweizer Sicht aufgerollt. In Deutschland und in Österreich gelten andere Regeln und Ansichtsweisen. Insbesondere wird in jenen Ländern eher versucht, Hypothesen zu beweisen oder zu widerlegen. Oder der zu untersuchende Aspekt wird nicht beurteilt, weil Unsicherheiten vorhanden sind. In der Naturwissenschaft ist jedoch Vieles mit Unsicherheit verbunden.
09.08.2024 Sturheit
21.07.2024 Konjunktiv 2
16.04.2024 Formulierungen
30.03.2024 Bias
29.03.2024 Schlussfolgerungen
22.03.2024 Befangenheit
09.03.2024 Transparenz
Meine Sturheit hat mir schon häufig geholfen: Die Gegenseite muss gute und belastbare Argumente bringen, um mich von meiner Meinung abzubringen und ich meine innere Überzeugung ändere. Zudem muss der Zusammenhang logisch aufgebaut und in jedem Detail stimmig sein. Meine Sturheit hilft mir auch, Details nachzufragen. So viele, bis ich endlich alles detailliert begriffen habe.
Meine Sturheit ist eigentlich nur ein Energiesparprogramm meines Gehirns, so habe ich das von Julia Galef gelernt und das hat mich überzeugt. Das Gehirn kann unmöglich alles Neue in einer Form abspeichern, in der bestehende Gedanken sofort umprogrammiert werden, sobald neue Erkenntnisse eintreffen. Die Neuerungen müssen zuerst «verdaut» werden. Häppchenweise. Dann in der Nacht in den Träumen nochmals durchgespült. Und in den nächsten Tagen erneut durchgedacht. Würde ich sofort umprogrammieren, wäre das rein energetisch und vielleicht auch organisch nicht möglich. Schliesslich müssen die tausenden Blitze durch die Gehirn-Nervenbahnen tatsächlich organisch umprogrammiert werden, ansonsten wären keine neuen Gedanken möglich. Dann habe ich ja auch noch den unzugänglichen Teil im Gehirn mit den Gefühlen (limbisches System) und den Ängsten (Amygdala), die sind sehr schwierig umzuprogrammieren und mischen auch stets bei der Suche nach Schlussfolgerungen mit. Da kommt man nicht darum herum. Ohne Gefühle läuft gar nichts, auch nicht beim gefühlskalten Wissenschafter.
Ich habe mir schon oft überlegt (im Zusammenhang mit der Erkenntnis, dass bei einem Vortrag beim Publikum nur sehr wenig hängen bleibt), was es benötigt, damit Menschen neue Ideen erfassen können. Aus meiner persönlichen Sicht sind 3 Bedingungen nötig:
1. Neugierde. Die Neugierde ermöglicht mir, mein Gehirn für Neues zu öffnen. Nur wenn ich mir sage: «Was kommt da noch Spannendes auf mich zu?» ist es mir möglich, Neues interessant zu finden und nur so kann ich es mir auch merken.
2. Gelassenheit. Die Gelassenheit führt dazu, dass ich nicht überlastet bin. Nur wenn ich noch freie Kapazität habe, kann ich etwas Neues denken. Oder umgekehrt formuliert: Bin ich im Stress, so bin ich ausgebucht und mich nerven Neuigkeiten. Ich möchte dann die neuen Gedanken nicht denken. Zur Gelassenheit gehört auch Frische, also ausgeschlafen und an diesem Tag noch nicht allzu viel gedacht zu haben.
3. Motivation. Diese kommt optimalerweise von mir selbst, kann aber auch als externer Druck funktionieren (Prüfung bevorstehend, Antreffen von Neuem in zu kontrollierenden Berichten)
Sind diese 3 Bedingungen vorhanden, kann ich Neues in begrenztem Umfang aufnehmen. Mein Gehirn ist dann bereit, etwas Neues zu denken und ich mache das mit Vergnügen.
Was hat das alles mit Berichten und Gutachten zu tun? Vieles! Die Leserschaft wird beim Lesen mit neuen Gedanken und Schlussfolgerungen regelrecht zu-bombardiert. Und als Schreibender muss ich aufpassen, die Leserschaft nicht zu verlieren. Also müssen alle Details schön der Reihe nach und gut strukturiert aufgeführt werden. Die Schlussfolgerungen müssen in einem logisch korrekten Konstrukt nachvollziehbar sein. So gut nachvollziehbar, dass jeder Leser und jede Leserin anhand der Resultate und Gedankengänge auf dieselbe Schlussfolgerung von alleine kommen würde.
Auch kann die Leserschaft nicht elend langen Berichten folgen und hängt irgendwann ab. Um dies zu verhindern, müssen Ballaststoffe als Anhänge und Beilagen ausgemistet werden. Die Vorgehensweise bei den Untersuchungen soll so formuliert sein, dass die Leserschaft zumindest versteht, weshalb wann wo was durch wen gemacht wurde. Noch optimaler wäre es, wenn die Leserschaft denkt: «Ich würde nun ... machen» und kurz darauf im Text genau dies ausgesagt wird – oder weshalb es nicht gemacht wurde. Aber zu viele Details möchte man nicht lesen: Wen’s interessiert, kann’s im Anhang nachlesen.
Zusammengefasst: Sturheit ist aufgrund unserer biologischen Prozesse im Gehirn normal. Sturheit hilft, sofern Neugierde, Gelassenheit und Motivation vorhanden sind, Neuigkeiten erst dann zu akzeptieren, wenn wir sie detailliert nachvollziehbar und in massvollen Häppchen bekommen.
Exkurs: In der Politik begegnet man Sturheit ausgesprochen oft und markant. Selbst wenn man einen Politiker oder eine Politikerin überzeugen könnte, hat diese Person dann immer noch die Parteimeinung im Hintergrund, die sie nicht ignorieren darf. Vielleicht sind Politiker*innen deshalb besonders stur, weil sie gelernt haben, Andere mit ihren Argumenten zu überzeugen, egal ob die Argumente stimmen oder nicht, statt zuzuhören und Informationen objektiv entgegenzunehmen.
Die Verwendung des Konjunktivs 2
Bei der Verwendung von "dürfte", "sollte", "könnte", "müsste", "wäre" etc. drücken wir eine Unsicherheit aus, die in diesen Wörtern unpräzise abgebildet wird. Nur im Kontext kann die Leserschaft erahnen, wie gross die Unsicherheit ist. Die präzise Kenntnis und Mitteilung der Unsicherheit ist jedoch zentral für jeden Bericht und jedes Gutachten, weshalb die Verwendung der Konjunktive 2 möglichst zu vermeiden ist.
Allerdings können wir während einer Untersuchung nicht alle Details so genau kennen, dass wir auch deren Unsicherheit genau kennen, das würde zu weit führen. Zwischenresultate und Zwischenfolgerungen müssen oft ein ungewisses Mass an Unsicherheit enthalten, da wir sonst zu viel Energie und Zeit in Nebenschauplätzen verlieren. Nur die Gutachtensfragen, die Forschungsfragen und die Hauptresultate sollen so genau bekannt sein, dass deren Unsicherheiten in einem normierten und logisch korrekten Regelwerk kommuniziert werden können.
Tatsächlich verwendete ich selbst solche Wörter in Gutachten, jedoch in den meisten Fällen, um die Grössenordnungen der Unsicherheiten zu beschreiben, wie "… in diesem Fall dürfte die Toleranz im unteren Bereich liegen." oder um Unsicherheiten von zukünftigen Ergebnissen zu beschreiben, wie: "Weiterführende Untersuchungen wären aufwendig und dürften kein aussagekräftiges Resultat ergeben." Oder - wie erwähnt - um unwesentliche Zwischenfolgerungen zu machen, wie: "Dieser Gegenstand dürfte an der Hauswand abgeprallt sein."
Oft meinen wir bei der Verwendung solcher Wörter jedoch das Aufstellen einer möglichen (vorerst unbewerteten) Arbeitshypothese, die es danach mit der Bewertung der Befunde mehr oder weniger in den Vordergrund/Hintergrund zu stellen gilt. In diesen Fällen ist es vorteilhaft, auf Konjunktive 2 zu verzichten, ausser es sei im Kontext klar, dass es sich um eine später zu analysierende Arbeitshypothese handelt. Beispiel: "Aus diesen Gründen schliessen wir darauf, dass er von rechts gekommen sein dürfte." Dieser Satz ist zu ersetzen mit: "Aus diesen Gründen ziehen wir zusätzlich auch die Arbeitshypothese in Betracht, dass er von rechts kam." Ausser es wäre ein unwichtiges Zwischenfazit, welches im Folgenden keine wesentliche Rolle mehr spiel. Eine weniger gute Formulierung ist: "Deshalb gehen wir im Folgenden davon aus, dass er von rechts kam." Besser: "Deshalb nehmen wir nachfolgend an, dass er von rechts kam." Es ist möglich, dies noch zu ergänzen: "Ist dies bestritten, müssen die Analysen erneut und mit den neuen Rahmenbedingungen durchgeführt werden."
Bei der genaueren Betrachtung der sprachlichen Ungenauigkeit in der Abbildung der Unsicherheit fällt auf, dass das ganze Gedankenkonstrukt mit Annahmen und ungewissen Zwischenfolgerungen eigentlich in ein logisches und mathematisch belastbares Modell überführt werden kann: Dem "Bayesian Network", siehe https://doi.org/10.1016/j.fsigen.2017.12.006 Mit einem solchen Modell kann jeder Gedankenabschnitt inkl. Unsicherheit und hinterlegtem statistischen Modell als Netzwerk aufgestellt werden und die Ergebnisse unter Änderungen der Eingabewerte, Parameter, Verbindungswege und hinterlegten Daten analysiert werden. Damit wird es klaret, welche Zusammenhänge zwischen Ursachen und Wirkungen angedacht sind und wo welche Unsicherheiten vorliegen. Insbesondere kann auch eine Sensitivitätsanalyse erfolgen, welche Parameter in welchem Umfang das Resultat ändern. Allerdings ist sowohl das Aufstellen eines solchen Modells wie auch das Begreifen anspruchsvoll und in normalen Gutachten (noch) nicht praktikabel umsetzbar.
Bleiben wir also bei den einzelnen Unsicherheiten im Text, die klar deklariert werden müssen und nicht mit dem Konjunktiv 2 mit unbekannter Unsicherheit umschrieben werden sollen.
Gutachten und Berichte müssen inhaltlich korrekt und verständlich sein. Widmen wir uns einigen Aspekten der Grammatik:
Wortwiederholungen: Werden verschiedene Wörter für dieselbe Bedeutung verwendet, ist das zwar etwas weniger eintönig beim Lesen, jedoch oft verwirrlich. Die Leserschaft fragt sich: «Ist dasselbe gemeint oder liegt in der Wahl des vordergründig gleichbedeutenden Begriffs eine gewollte Differenz?» Bereits bei der deutschen Übersetzung von fremdsprachigen Ausdrücken können Fragen entstehen. Dass die beiden Wörter «Differenz» und «Unterschied» dasselbe bedeuten, ist klar. Aber dass «Variation» dasselbe wie «Streuung» bedeutet, ist weniger klar, denn es gibt für beide Begriffe sowohl eine mathematische wie auch eine sprachliche Bedeutung, die sich leicht unterscheiden. So kommt es vor, dass in einem Gutachten oder Bericht immer wieder «untersuchen» verwendet wird und nicht bloss zur Abwechslung «analysieren», «ermitteln», «herausfinden», «eruieren», «berechnen», «bestimmen» etc. eingesetzt wird, weil jedes Verb eine leicht abweichende Bedeutung hat. Generell assoziieren wir alle bei jedem Begriff leicht unterschiedliche Inhalte. Untereinander haben wir kulturell-sprachlich abgemacht, was unter einem «Tisch» zu verstehen ist. Wenn wir aber von «ermitteln» reden, assoziiert jeder Mensch etwas leicht anderes. Und so ist es mit zahlreichen Wörtern, insbesondere mit den Verben. Wir verbinden diese Wörter mit Gefühlen, Erfahrungen und Satzresten, die von Mensch zu Mensch mehr oder weniger unterschiedlich sind.
«davon ausgehen»: Folgerungen werden oft mit «wir gehen deshalb davon aus, dass...» beschrieben, im Sinne von «ich folgere deshalb, dass...». Dies ist falsch, denn «davon ausgehen» ist die Nennung einer Anknüpfungstatsache oder einer Hypothese und keine Schlussfolgerung. Höchstens lässt es sich indirekt deuten und wie folgt umschreiben: «Ich folgere deshalb, dass ... und gehe nachfolgend von der Sicherheit aus, dass es so sei.» Bei dieser Umschreibung von «davon ausgehen, dass...» wird der Gedankenfehler sichtbar: Die mit Unsicherheit behaftete Folgerung mutiert mit einem Gedankensprung zur sicheren Tatsache.
«kann»: Dasselbe lässt sich bei der Verwendung von «kann» wie beispielsweise: «konnte nicht festgestellt/gemessen/beobachtet werden». Dieses «können» impliziert ein «wollen», das heisst dass etwas gemessen werden wollte, aber nicht konnte. Bei einer Messung oder Beobachtung kann das «können» nachvollzogen werden, denn man fokussiert sich auf etwas, das dann nicht gemessen/beobachtet werden kann. Aber bei Feststellungen wird das «kann» relativ tendenziös, denn man möchte ja nicht etwas Bestimmtes feststellen sondern muss bei Beobachtungen für alle möglichen vorhandenen und fehlenden Ergebnisse offen sein. Machen wir ein Beispiel: «In den Taschen des Verdächtigen konnten keine Glassplitter gefunden werden.» Dies ist tendenziös, denn offenbar glaubten wir, ihn mit Glassplitter des Einbruchs überführen zu können und haben ganz besonderes Augenmerk und tendenziös während der Absuche der Kleidertaschen auf Glassplitter gelegt. Aber so war es ja alles nicht. Wir wollten nur korrekterweise sagen: «In den Taschen des Verdächtigen fanden wir keine Glassplitter.» – Und nicht das eine Mal den Begriff «Splitter» und dann zur sprachlichen Abwechslung den Begriff «Fragmente» wählen, sonst fragt sich die Leserschaft, ob ein Unterschied vorhanden sei.
«wahrscheinlich/plausibel»: Bei der Verwendung von «wahrscheinlich» ist in der Regel im deutschsprachigen Raum die objektive Wahrscheinlichkeit gemein. Eine messbare Wahrscheinlichkeit, wie beispielsweise 99.5 % oder ca. 40 %. Es müssten also Zahlen als Grundlagen vorhanden sein, aus welchen sich eine Wahrscheinlichkeitszahl errechnen oder zumindest konkret abschätzen lässt.
Sehr oft sind jedoch solche Zahlen nicht vorhanden oder nicht auf den Fall anwendbar, weil völlig andere Umstände vorliegen. In solchen Fällen können wir höchstens eine subjektive Wahrscheinlichkeitseinschätzung nennen: Dies lässt sich mit dem Adjektiv «plausibel» besser umschreiben. Beispielsweise ist es wenig plausibel, auf den Händen eines Schützen kurz nach der Schussabgabe keinen Schmauch zu finden, sofern er keine Handschuhe trug und sich die Hände nicht waschen konnte. Das Adjektiv «plausibel» umschreibt nicht nur die Wahrscheinlichkeitseinschätzung sondern beinhaltet auch die Fallumstände, was genau für solche Umschreibungen passend ist.
«absolute Formulierungen»: In Gutachten und Berichten sollen wir erzählen, was wir genau gemacht haben und was wir mit unseren Messmitteln gemessen und beobachtet haben. Wir legen also offen, welche objektiven Feststellungen wir machten. Dies resultiert in eine Erzählform mit «ich» und «wir». Leider verstecken sich aber viele Autoren*innen hinter einer Anonymität, die in absolute Formulierungen münden, die üblicherweise in wissenschaftlichen Arbeiten vorkommen: «Es ist kein Blei messbar.», «Es waren keine Unterschiede feststellbar.», «Das Pulver enthielt keine Pollen.» Die meisten solcher Formulierungen sind deutlich ausführlicher und nicht so kurz, jedoch absolut. Mit den absoluten Formulierungen kann fälschlicherweise gefolgert werden, dass jeder auf der Welt auch in Zukunft und mit noch viel besseren, moderneren Messmitteln auch nichts messen würde. Das kann so nicht sein. Die eigene Beschränktheit bezüglich Messmethoden und Beobachtungsgabe wird auf die ganze Welt und die Zukunft verallgemeinert. Solche Formulierungen sind durch die Entpersonalisierung überheblich geworden. Die einzige Möglichkeit für solche Formulierungen liegt darin, die eigenen Mittel und Methoden mit ihren Grenzen zuerst genau zu beschreiben und danach aufzuführen, welche Resultate sich unter dem Einsatz welcher Mittel ergaben. Unter dasselbe Kapitel gehört die Formulierung der Schlussfolgerung: «Kann gefolgert werden, dass ...» Ersten nicht kann (siehe oben) zweitens sind es «wir» oder «ich» die folgern, denn andere hätten vielleicht anders gefolgert. Stellen Sie sich vor, sie seien vor Gericht und die Vorsitzende hält Ihnen vor: «Sie haben geschrieben, es lasse sich kein Blei messen. Ein anderer Gutachter hat jedoch ein empfindlicheres Gerät verwendet und folgende Konzentration gemessen:... Was sagen Sie dazu?» Ihre Antwort müsste heissen: «Ich habe dies zu absolut formuliert. Ich wollte sagen, dass ich mit meinem Gerät mit der Nachweisgrenze von ... und mit der Methode ... keine messbare Konzentration von Blei fand.»
Kommen wir zum zentralen Punkt der Objektivität: Vermeidung von Bias. Bias ist eine systematische Abweichung von der Wahrheit. Zufällige Abweichungen erzeugen grössere Streuung, sind aber nicht so zentral wie systematische Abweichungen.
Wir Menschen sind aus historischen Gründen so gebaut, dass wir schnell entscheiden. In manchen Filmen wird gesagt: «Im Grunde hast du dich ja schon entschieden!». Und genau das ist das Problem. Auch wenn wir glauben, objektiv zu sein, sind wir es in Wahrheit nicht. Früher dachte ich, ich sei absolut objektiv und mich könne nichts beeinflussen. Bis ich aufgrund von tatsächlichen echten Fällen sehen musste, dass ich mich immer wieder irrte: Zuerst glaubte ich an einen Unfall, dann verfolgte ich die Idee des Verbrechens und schlussendlich war es Suizid. Auch bei Unfällen und technischen Gegebenheiten habe ich mich häufig auf eine Meinung versteift. Ist ja ganz normal: Zuerst bleibt man ergebnisoffen, man weiss nicht so recht, was tatsächlich vorgefallen ist. Irgendwann verdichten sich die Indizien und man glaubt es zu wissen. Und nun kommt der entscheidende Punkt: Falls wir erkennen können, dass es doch anders ist als wir ursprünglich geglaubt haben, müssen wir uns eingestehen, dass wir uns irrten und logischerweise ebenfalls davon ausgehen, dass wir und in der aktuellen Meinung durchaus wieder irren könnten. Der letzte Punkt ist die Ehrlichkeit. Viele Menschen bleiben in derselben Meinung stecken. Eine Minderheit, und die umfasst hoffentlich Ermittler*in, Staatsanwalt und Staatsanwältin, Richter*in, erkennt, dass man sich irren kann. Menschen, die solche Funktionen belegen, sollten geistig flexibel bleiben und auch mal ihre Meinung ändern können.
Aber nur sehr wenige Menschen erkennen die Logik, dass wenn man sich früher irrte, sich auch aktuell irren könnte.
Dieser letzte Schritt der Erkenntnis braucht Grösse, Gelassenheit und Demut. Nur durch Einsicht unserer Unbedeutsamkeit und Kleinheit können wir den Zustand erreichen zu wissen, dass wir uns aktuell in unserer Meinung auch irren könnten. Dieser Zustand ist für Kriminaltechniker*innen, Rechtsmediziner*innen, Psycholog*innen, Psychiater*innen, Jurist*innen, Richter*innen, Wissenschafter*innen, Lehrer*innen etc. (eigentlich für alle Menschen) anzustreben, um Objektivität und Weisheit zu erlangen. Wir finden dies im Buddhismus. Auch wenn ich diese Religion nur marginal kenne und kein Anhänger davon bin, weiss ich, dass es sich um die Offenheit für Eingebung in Verbindung mit der Gelassenheit dreht. Wir können nichts Neues denken, wenn wir nicht gelassen und offen sind. Aber wir müssen ständig Neues denken, um weiterzukommen. Wir können dies auch anders formulieren: Wir benötigen die Fähigkeit, loszulassen, Neues zuzulassen, Selbstkritik zu üben, von Fehlern auszugehen, die innere Überzeugung zu überprüfen, sich nicht verteidigen zu müssen und davon auszugehen, dass man Vieles noch nicht weiss.
Im Teil «Schlussfolgerungen» haben wir gesehen, dass es neben Wissen und Erfahrung auch Offenheit und Gelassenheit benötigt, um Hypothesen (Ursachen für die angetroffene Situation) aufstellen zu können und diese zudem in eine Reihenfolge der Wahrscheinlichkeit zu bringen. Also jede Ermittlungsarbeit benötigt diese Eigenschaften.
Fazit: Der Bias ist ständig da und wir alle glauben, er sei weg. Wir alle sind beeinflusst, tendenziös, parteiisch. Ob wir wollen oder nicht und ob wir es wissen oder nicht. Dies zu wissen, ist der erste Schritt zur Besserung.
Gehen wir zuerst auf die Ursachen ein: Bias ist historisch gesehen ein wichtiger Entwicklungsschritt der Menschheit: Wir können aufgrund weniger Informationen sofort eine Meinung haben, um auch sofort entscheiden zu können. Beispielsweise wissen Polizist*innen als gute Menschenkenner*innen sehr schnell und meistens treffsicher, wer lügt und wie die befragten Personen funktionieren. Sie haben es im Gefühl - und dieser Instinkt ist wichtig für allfällige Sofortmassnahmen- wenn die Person plötzlich aggressiv reagiert, angreift oder Lügengebilde aufbaut.
Sehr zutreffend ist dies in der Richterzeitung «Justice - Justiz - Giustizia» 2023/3 von Dr. Franziska Hofer nachzulesen. Mit ihr zusammen veranstaltet das Forensische Institut Zürich jährlich eine grosse Tagung zum Thema "(Re)konstruierte Wahrheiten, Vermeidung von Bias", um die Belegschaft und auch Ermittler*innen, Staatsanwält*innen und Richer*innen über dieses Thema zu schulen.
Die wichtigsten beiden Bias sind:
1. Confirmation Bias: Wir erkennen Gegenstände, Situationen, Aussagen und Gegebenheiten besonders gut, die in unsere Erwartung passen und diese bestätigen. Wir erkennen jedoch solche Dinge nicht sehr gut, wenn sie nicht unserer Erwartung entsprechen: Wir ignorieren oder übersehen sie, wir versuchen sie mit abstrusen Zusammenhängen zu erklären und zu verniedlichen. Wir tun sie ab. Das ist eine Grundtendenz jedes Menschen und es wäre besser, wenn wir uns dessen bewusst sind, dass eine solche Tendenz völlig normal, jedoch absolut unerwünscht ist.
2. Contextual Bias: Wir erkennen Gegenstände, Situationen, Aussagen und Gegebenheiten besonders gut, die in den vorliegenden Rahmen passen. Wir bewegen uns bei jeder Geschichte in einem Rahmen: Ist das Thema Suizid vorhanden, bewegen wir uns gedanklich darin und haben beispielsweise Mühe, Missbräuche zu erkennen, resp. wir erkennen sie nicht, weil wir uns in einem anderen Rahmen, in einer anderen Geschichte befinden. Sehr schön konnte ich das einmal erkennen, als das Aufgebot für einen tödlichen Verkehrsunfall kam und ich entsprechende Fachleute hinschickte. Erst nach langer Untersuchung wurde festgestellt, dass eigentlich nichts für einen Verkehrsunfall hindeutet und danach hatte man den Geist geöffnet und einen neue Arbeitshypothese: Sprung oder Sturz aus grosser Höhe vom daneben befindlichen Hochhaus.
Nun möchten wir als nächstes praktische Tipps, um gegen solche Bias in der Praxis vorgehen. Folgende Gegenmassnahmen sind aus meiner persönlichen Sicht möglich :
Anmerkung: Die Fachliteratur, siehe Dr. Itiel Dror, sieht das etwas anders. Aber ich habe begründete Zweifel an diesen Theorien und insbesondere auch an deren Anwendbarkeit in der Praxis. Immerhin habe ich 26 Jahre praktische und sehr breite Erfahrung in der Tatortarbeit und in der Gutachtenserstellung, wobei Dr. Dror eher von der theoretischen Seite her kommt. Zudem geht er jeweils von anderen Justizsystemen aus (ohne abwägende Befundbewertungen).
1. Mehrere Arbeitshypothesen verfolgen: Sowohl bei der Arbeit am Vorfallort als auch während der Erstellung des Berichtes oder des Gutachtens sollte man nie nur eine Arbeitshypothese verfolgen. Es sind auch Gegenhypothesen, Alternativhypothesen, auszuschliessende Hypothesen und Hypothesen gemäss eigener Erfahrung aufzustellen und Spuren und Argumente für und gegen diese Hypothesen zu suchen und zu diskutieren. Die Betrachtung der Befunde unter Annahme der einen und der sich widersprechenden anderen Hypothese bildet die dritte und wichtigste Art der Schlussfolgerungen, die abwägende Befundbewertung, siehe Teil «Schlussfolgerungen»
2. Mehrere Personen arbeiten: Um auf andere Gedanken zu kommen (Eingebung), soll man nie alleine arbeiten. Andere, ebenfalls sachverständige und unabhängige Fachpersonen können neue Ideen einbringen, welche dann bis auf den Boden auszudiskutieren sind. Selbst wenn diese Ideen vorerst abstrus wirken.
3. Das systematische Vorgehen: Aufgrund Erfahrungen anderer Personen bei früheren Fällen existieren meistens systematische Prinzipien, Minimal-Standards oder Checklisten und betriebliche Vorgaben. Diese führen dazu, dass man in einem gewissen Rahmen geschützt ist: Man hat die nötigen und den anerkannten Regeln der Technik entsprechende Mittel und Methoden verwendet. Natürlich nützen solche systematischen Vorgehensweisen nur dann, wenn man nicht zu stark an «Confirmation Bias» leidet, weil man ansonsten alle nicht passenden Ergebnisse ignoriert. Beispielsweise werden (soweit ich informiert bin und es auch tatsächlich stimmt) standardmässig alle Kindstote in Zürich obduziert und bezüglich aller möglicher Verbrechen untersuch, da es bekanntermassen eine grosse Dunkelziffer von Verbrechen an Kindern gibt. Also werden alle Standarduntersuchungen an Kindstoten durchgeführt, egal welcher Meinung man ist und welche Umgebungsinformationen vorliegen.
4. Arbeitsbedingungen verbessern: Alle untersuchenden Personen sind auch nur Menschen. Wir alle leiden manchmal an Hunger, Durst, Notdurft, Müdigkeit, Hitze, Kälte etc. und können unter solchen Umständen weniger gut denken und insbesondere weniger gelassen sein und neue Gedanken zulassen. Also sind an jedem Arbeitsort mitarbeiterfreundliche und klare Arbeitsbedingungen zu schaffen. Unter klaren Bedingungen sind die geistigen Einstellungen zu verstehen: Beispielsweise die Gewissheit, dass in 1 Stunde eine Besprechung anberaumt ist und man dann auf Toilette kann oder dass die Arbeit noch viele Stunden geht und man bis zum Schluss nicht abgelöst wird.
Diese vier Grundregeln bringen die arbeitenden Menschen dazu, eher weniger von Bias befallen zu sein. Jedoch ist es wichtig zu wissen, dass man stets einen Bias verfolgt, den man selbst nicht merkt (oder merken will).
Nachtrag vom 09.08.2024: Dieses Thema wurde (verbessert formuliert - es geht immer besser!) in der Zeitschrift Kriminalistik Juli 2024 veröffentlicht, hier die Zusammenfassung: https://kriminalistik.de/aktuelle_ausgabe_kriminalistik.htm#Schweiz1
Der Kern eines Gutachtens oder Berichtes besteht aus Schlussfolgerungen. Beobachtungen und Messergebnisse (wir nennen dies fortan Befunde) sind objektive Feststellungen von Tatsachen, die jede andere Person mit Sachverstand genau gleich durchführen würde. Natürlich ist das auch interessant, aber es interessiert noch mehr, welche Schlussfolgerungen nun daraus gezogen werden. Wir setzen also die Fragen (Gutachtensfragen, Forschungsfragen) in den Kontext der Befunde und führen logische Gedankengänge durch, um Folgerungen zu treffen.
Wir reden hier nicht über Zwischen-Ergebnisse (Fazite), die zwingend von jeder anderen sachverständigen Person anhand der Befunde durchgeführt worden wären. Solche sind – textlich abgegrenzt – im Teil der Beschreibungen der Untersuchungen angebracht. Nein, hier geht es um die wichtigen Hauptfragen des Gutachtens oder des Berichtes.
Bevor wir die verschiedenen möglichen logischen Arten von Schlussfolgerungen beleuchten, müssen die philosophische Grundlagen dieser Logik kurz betrachtet werden:
Gehen wir vereinfacht davon aus (entsprechend Immanuel Kant), dass alle Veränderungen nach dem Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung geschehen. Die Theorie der Kausalität ist jedoch viel komplexer, siehe Habilitation Wolfgang Spohn 1983 (http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-135451). Unter Ursache sei die gesamte Ausgangskonstellation inkl. allen Rahmenbedingungen gemeint und unter der Wirkung die nach einem zeitlichen Ablauf sich später einstellende Endkonstellation. Wir können nun in beide zeitlichen Richtungen denken: Entlang der Zeit und entgegen. Der Ablauf, den wir aus Erfahrung oder Wissen kennen, geschehe nach naturwissenschaftlichen Gesetzen.
Das Denken in Zeitrichtung nennen wir Deduktion, das Denken rückwärts Induktion. Beide Begriffe sind etwas umfassender definiert als mit der hier vereinfachten Anschauungsweise, aber unsere Vereinfachung führt zu klaren logischen Strukturen in den verschiedenen Arten möglicher Schlussfolgerungen.
Zuerst betrachten wir die Induktion: Sie ist das zeitliche Zurückdenken in Anbetracht einer angetroffenen Situation, um die Ursache (Ausgangskonstellationen) zu finden. Da die angetroffene Situation in aller Regel mehrere mögliche Ursachen haben kann, nicht alle mit derselben Wahrscheinlichkeit, kann eine Auflistung möglicher Ursachen in der Reihenfolge derer Wahrscheinlichkeiten erstellt werden. Das Finden möglicher Ursachen bedeutet einerseits eine geistige Offenheit und Fantasiekraft und andererseits Wissen resp. Erfahrung. Deutlich wird das bei der ärztlichen Diagnosestellung: Eine Ärztin oder ein Arzt kann mit viel Wissen und Erfahrung in Anbetracht der Symptome eines Patienten mögliche Krankheiten als Ursachen diagnostizieren und deren Wahrscheinlichkeiten in eine Reihenfolge bringen. Derselbe Gedankenprozess geschieht bei einem Tatort resp. Unfallort, wenn Ermittler*innen und Forensiker*innen versuchen, mögliche Arbeitshypothesen über Abläufe und Ausgangskonstellationen aufzustellen. Die Arbeitshypothesen werden durch Befragungen, Spurenanalyse etc. getestet und im Verlaufe der Untersuchung deren Wahrscheinlichkeiten verändert. Dasselbe geschieht bei der Ärztin oder beim Arzt, wo nach weiteren Analysen die eine oder andere mögliche Krankheit in den Hintergrund oder in den Vordergrund gestellt wird.
Kommen wir zur Deduktion als zeitliches Vorwärtsdenken: Bei der Deduktion wird eine Ausgangskonstellation als Hypothese aufgestellt und man denkt sich, was danach üblicherweise passieren würde. Es ist sozusagen ein zeitlich ablaufendes Gedankenexperiment. Auch dieser Vorgang ergibt aufgrund von Streuungen und Unsicherheiten nicht immer genau dieselbe Endsituation. Die erwartete Wirkung liegt in einem Streubereich, welcher bei grösserer Unsicherheit zunimmt. Auch für diesen Gedankengang ist Erfahrung und Wissen nötig. Allerdings benötigt dieser Gedankenvorgang weniger Gedankenoffenheit und Fantasie, da wir nicht – wie bei der Induktion – nach etwas a priori Unbekanntem suchen, sondern von einer bekannten Ausgangslage ausgehen und lediglich überlegen müssen, was dann passieren kann. Falls wir es nicht wissen, können unter Umständen sogar reale Experimente durchgeführt werden.
Aus diesen beiden Gedankenvorgängen lassen sich zwei der vier Hauptkategorien von Schlussfolgerungen unterscheiden (die Nummerierung der Schlussfolgerungskategorien ist extern gegeben).
2. Ermittlung möglicher Ausgangslagen (Engl: investigative interpretation)
Die zweite Art der Schlussfolgerungen, das Aufstellen von möglichen Ausgangslagen und Abläufen, wird typischerweise zu Beginn einer Untersuchung durchgeführt. Nur selten lautet eine Gutachtensfrage, welche Ursache möglich oder wahrscheinlich sei. Wird das aber gefragt, so erfolgt der Gedankengang der Induktion: Anhand der angetroffenen Situation mögliche Ausgangslagen resp. Ursachen und Abläufe zu ermitteln. Oft wird im Stadium der Untersuchung, in welchem Gutachten gefordert werden, um verschiedene, bereits aufgestellt Hypothesen gestritten. In diesen Fällen und auch bei der Frage, ob ein Gegenstand oder eine Spur einer bestimmten Quelle zuzuordnen sei, wird die dritte Art der Schlussfolgerung, die abwägende Befundbewertung durchgeführt.
3. Abwägende Befundbewertung (Engl: evaluative interpretation)
Die dritte Art der Schlussfolgerung, die abwägende Befundbewertung, ist die wichtigste Art und hat weitreichende Konsequenzen: Es werden mindestens zwei sich gegenseitig ausschliessende Hypothesen aufgestellt (meistens von der Anklage und der Verteidigung) und die Befunde unter Annahme (Bedingung) der jeweiligen Hypothese bewertet. Es ist zu bestimmen, wie wahrscheinlich die Befunde unter der einen Hypothese sind und wie wahrscheinlich unter der anderen. Immer in Anbetracht der Streuung der erwarteten Ergebnisse. Der Gedankengang ist die Deduktion: Es werden zwei Hypothesen aufgestellt, die erwartete Endsituation in Anbetracht der Befunde inklusiv Streuung ermittelt und untersucht oder berechnet, wie gut die tatsächlichen Befunde in die Erwartungen passen. Danach werden diese beiden Wahrscheinlichkeiten dividiert und es bildet sich somit das Likelihood Ratio als Endresultat der Schlussfolgerung. Dieses Likelihood Ratio sagt aus: Egal wie wahrscheinlich die Hypothesen aufgrund anderer Beweise sein mögen, die beobachteten Befunde verstärken die Wahrscheinlichkeit der einen Hypothese gegenüber der anderen um den Faktor des Likelihood Ratios.
Diese Gedankenweise hat weitreichende und sehr positive Folgen:
1. Sämtliche Unsicherheiten sind im Resultat enthalten
2. Das Resultat muss nicht eine Hypothese beweisen oder widerlegen, was dazu führt, dass die sachverständige Person Beweise für oder gegen eine Hypothese sucht und damit einen Bias verfolgt.
3. Das Gericht muss entscheiden, die sachverständige Person liefert und einen Beitrag.
4. Die Betrachtung der Beweise ist ausgewogen und die Gegenseite genau gleich betrachtet wie die gefragte Seite.
5. Die Variabilitäten sind mit einberechnet
6. Es ist klar, welche Hypothesen betrachtet wurden (diese müssen ausformuliert werden)
7. Es ist klar, dass bei Änderung der Annahmen oder Hypothesen neue Bewertungen durchgeführt werden müssen
8. Die Datengrundlagen müssen in den Diskussionen der Befunde unter Anbetracht der einen oder anderen Hypothese transparent aufgezeigt werden.
9. Bei Vorhandensein von auf den Fall zutreffenden Datenbanken lässt sich der Beweiswert berechnen.
10. Verschiedene Beweise werden unabhängig voneinander bestimmt und können miteinander verrechnet werden (sofern die Unabhängigkeiten der Ereignisse korrekt beachtet werden oder sofern ein Bayes-Net aufgestellt wird, das dem Fall entspricht)
Die abwägende Befundbewertung entspricht der europäischen «guideline for evaluative reporting» und der neu entstehenden ISO-Norm für Forensik, Teil Interpretation. Sie ist in zahlreichen Lehrbüchern (von Franco Taroni, Silvia Bozza, Alex Bidermann, Colin Aitken, Bernard Robertson, Charles Berger) und wissenschaftlichen Artikeln beschrieben und gilt als «state of the art» in der aktuellen Logik von Beweisbewertungen. Eine gute Zusammenfassung dieser Befundbewertung ist im Buch «Interpreting Evidence» von Bernard Robertson, G. A. Vignaux und Charles Berger nachzulesen. Diese Art der abwägenden Befundbewertung zu ignorieren und immer noch zu meinen, man müsse Hypothesen beweisen, ist eine Tendenz, die in der Vergangenheit und immer noch aktuell zu zahlreichen Fehlurteilen führte. Im «Netherlands Forensic Institute» und im «Forensischen Institut Zürich» werden diese Art von Schlussfolgerungen – sofern angebracht und die erste und zweite Art nicht möglich sind – obligatorisch durchgeführt.
Kommen wir noch zur ersten und zur vierten Art der Schlussfolgerungen:
1. Direkte Folge einer Analyse (Engl: direct answer of analysis)
In der Analytik existieren Verfahren, mit welchen eine Kategorie eindeutig bestimmt werden kann. Beispielsweise können chemisch-analytische Messgeräte eine Substanz erkennen, Messungen eine biologische Art definieren oder Beobachtungen ein Individuum einer Gruppe zuordnen. Es ist ein Klassifizieren mit im Voraus bestimmten Merkmalen. Ist die Analysemethode validiert (beispielsweise nach der Norm ISO 17025), d.h. fit für die Aufgabe, so können die Messergebnisse bei Erreichen von Merkmalen zu einer eindeutigen Klassifizierung führen. Der Gedankengang ist weder eine klassische Induktion noch eine Deduktion sondern reine Analytik: Zuordnung eines Ergebnisses in eine Klasse. Für diese Aufgabe benötigt es Fachwissen, jedoch keine Expertenmeinung, da zeitlich weder vorwärts noch rückwärts gedacht wird. Ist die Klassifizierung jedoch nicht eindeutig, muss eine Wahrscheinlichkeitsrechnung durchgeführt werden: Bsp: zu X % Klasse 1 und zu 100-X % Klasse 2, Konfidenzintervall der Vorhersage: +/- 5 %.
Es ist wichtig, die Klassifizierung von einer Individualisierung zu unterscheiden: Eine Individualisierung bedeutet, einen einzigartigen Gegenstand (oder eine Person) als diesen einzigen zu erkennen und zu benennen. Eine Identifikation ist jedoch keine Individualisierung. Eine Identifikation ist die eindeutige Zuordnung eines Objektes zu einer Gruppe, also eine Extremform der Klassifizierung (100 % Klasse 1, 0 % alle anderen Klassen, Konfidenzintervall 0 %). Zahlreiche Personen reden von einer Identifikation (einer Person, einer Waffe etc.) und meinen eigentlich eine Individualisierung. Ausser man würde die Waffe als Pistole (Kategorie) identifizieren oder die Person als Schweizer, aber das ist meistens nicht gemeint.
4. Kategorische Meinung (Engl: categorical opinion)
Die kategorische Meinung ist das Sorgenkind innerhalb der vier Arten von Schlussfolgerungen. Eigentlich müsste sie eingeschränkt werden: Es ist in der Naturwissenschaft grundsätzlich nicht möglich, absolute Sicherheit zu erhalten, ausser die Menge sei überschaubar und die Klassifizierungsmerkmale seien deutlich abgegrenzt. In solchen Fällen ist eine kategorische Meinung möglich: «Von den drei Fahrzeugen war keines blau.» Jedoch wurde diese Art der Schlussfolgerungen in der Überheblichkeit oft für Aussagen missbraucht, bei welcher keine absolute Formulierung möglich gewesen wäre: «Es ist auszuschliessen, dass das Opfer gewürgt wurde.» Oder «Die Spuren belegen, dass ...» Das geht weiter so in zahlreichen Gutachten, wo verschiedene Hypothesen unter haarsträubenden Begründungen ausgeschlossen oder bewiesen werden. Solche Vorgehensweise haben die Forensik in Verruf gebracht, unwissenschaftlich zu sein. Die sachverständige Person muss bei objektiver Betrachtung gewisse Unsicherheiten anlässlich der Schlussfolgerung haben. Das System der Justiz verlangt jedoch traditionellerweise von sachverständigen Personen, dass sie etwas klar beweisen oder widerlegen können. So wird man dazu gedrängt, Unsicherheiten zu verbergen und sucht nach Gründen und Indizien, welche die eine Hypothese beweisen oder widerlegen. Damit ist man genau in der Schiene des Bestätigungs-Bias: Man sucht unbewusst nach bestimmten Befunden und ignoriert solche, die nicht in die Erwartung passen. Das ist aber ein Thema für einen weiteren Blog.
Der Ausweg? Die dritte Art der Schlussfolgerung mit abwägender Befundbewertung. Selbst wenn der Kunde das nicht versteht oder etwas anderes hören will.
In der Schweizerischen Strafprozessordnung steht unter Art. 56 „Ausstandsgründe“:
Eine in einer Strafbehörde tätige Person (auch die sachverständige Person) tritt in den Ausstand, wenn sie:
a. in der Sache ein persönliches Interesse hat;Zudem gibt es in den folgenden Artikeln weitere Bestimmungen über die Mitteilungspflicht, das Gesuch und die formelle Abhandlung.
Abs. c. bis e. können relativ einfach erhoben werden und sind deshalb weniger zu diskutieren. Punkt f. ist auch selten der Fall, da ein kollegiales oder normales berufliches Verhältnis nicht zu Freund- oder Feindschaft zählt. Kennt man beispielsweise den Gutachter der Gegenpartei gut und hat mit ihm bereits Fachtagungen absolviert, so ist dies normal und zählt nicht zum Punkt f.
Abs. b. ist lediglich dann zu beachten, wenn die sachverständige Person bereits als Polizist*in ermittelte. Ermitteln beinhaltet auch subjektive Tatbestände und ist juristisch tiefer greifend als „untersuchen“. Hat die sachverständige Person subjektive Momente in einem Verfahren ermittelt oder war sie für eine Partei tätig, so gilt sie als „verbrannt“. Sie kann/darf ihre Rolle mehr wechseln, da sie sonst als befangen gilt und in den Ausstand treten muss. Aus diesem Grund ist in Gutachten das Verb „ermitteln“ zu vermeiden. Würde man zuerst ermitteln (und damit potenziell subjektive Momente ergründen) und danach eine gutachterliche Bewertung durchführen, wechselt die sachverständige Person die Rolle, was als Befangenheit gilt, auch wenn die Person nicht befangen ist.
Kommen wir zum Abs. a. Generell liegt es nicht an der sachverständigen Person zu beweisen, dass sie nicht innerlich befangen sei und kein persönliches Interesse habe. Dieser innerliche Zustand wird juristisch nicht untersucht, da keine objektiven Messkriterien vorliegen. Deshalb spricht man vom „Anschein der Befangenheit“. Es genügt der Anschein, auch wenn man nicht tatsächlich befangen ist. Die tatsächliche Befangenheit resp. Unabhängigkeit interessiert nicht (eigentlich schon, aber man möchte sich nicht in diese Ebenen der Subjektivität begeben). Nun wäre es prinzipiell möglich, dass eine Partei, für die das Gutachten schädlich ist, immer diesen Anschein geltend machen könnte. Deshalb haben die Gerichte entschieden, dass nur substanzielle Begründungen zugelassen werden:
Im Bundesgerichtsentscheid 9C_718/2019 steht: „... darunter auch Sachverständige, in den Ausstand treten müssen, wenn sie in der Sache ein persönliches Interesse haben oder aus anderen Gründen in der Sache befangen sein könnten (Art. 29 Abs. 1 BV; Art. 36 Abs. 1 ATSG). Befangenheit von Sachverständigen ist nach der Rechtsprechung anzunehmen, wenn Umstände vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in ihre Unparteilichkeit zu erwecken. Bei der Befangenheit handelt es sich allerdings um einen inneren Zustand, der nur schwer bewiesen werden kann. Es braucht daher für die Ablehnung nicht nachgewiesen zu werden, dass die sachverständige Person tatsächlich befangen ist. Es genügt vielmehr, wenn Umstände vorliegen, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Bei der Beurteilung des Anscheins der Befangenheit und der Gewichtung solcher Umstände kann jedoch nicht auf das subjektive Empfinden einer Partei abgestellt werden. Das Misstrauen muss vielmehr in objektiver Weise als begründet erscheinen.“
Weitere Ausführungen finden sich im Bundesgerichtsentscheid 1B_551/2019:
4.3. Ein Ausstandsgrund im Sinne von Artikel 56 StPO wird nach der Rechtsprechung angenommen, wenn bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit des Sachverständigen begründen. Dies wird bei Umständen bejaht, die geeignet sind, Misstrauen in dessen Unparteilichkeit zu erwecken. Solche Umstände können in einem bestimmten Verhalten des Experten oder in gewissen äusseren Gegebenheiten (funktioneller und organisatorischer Natur) liegen. Bei der Beurteilung entsprechender Gegebenheiten ist nicht auf das subjektive Empfinden einer Partei abzustellen. Das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit muss vielmehr in sachlich-objektivierter Weise begründet erscheinen. Es genügt allerdings, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit erwecken; für den Ausstand wird nicht verlangt, dass der Sachverständige tatsächlich befangen ist (BGE 141 IV 34 E. 5.2 S. 37-39; 178 E. 3.2.1 S. 179; 140 I 240 E. 2.2 S. 242; 326 E. 5.1 S. 328; 138 IV 142 E. 2.1 S. 144 f.; 137 I 227 E. 2.1 S. 229; 132 V 93 E. 7.1 S. 109 f.; je mit Hinweisen).
4.4. Nach der Rechtsprechung kann eine den Ausstand begründende Vorbefassung (i.S.v. Art. 56 lit. b StPO) insbesondere vorliegen, wenn der als forensischer technischer Experte bestellte Sachverständige zuvor einen informellen "Vorbericht" zum untersuchten Unfallhergang verfasst hat, worin er sich - ohne nach den Vorschriften von Artikel 184 StPO förmlich bestellt und über seine Pflichten und die Straffolgen bei falschem Gutachten belehrt worden zu sein - in der Sache bereits weitgehend festlegte (zit. Urteil 1B_196/2015 E. 4.4). Demgegenüber steht nichts entgegen, einen gesetzeskonform bestellten forensischen Experten über den gleichen Sachverhalt mehrmals als Gutachter zu befragen bzw. auch für ergänzende oder vertiefende Arbeiten als Sachverständigen beizuziehen. Er gilt nach einer ersten Äusserung als Experte in der gleichen Sache nicht bereits als unzulässig vorbefasst (Urteile 1B_141/2017 E. 4.4; 1B_196/2015 E. 4.4.4; 1B_45/2015 vom 29. April 2015 E. 2.3; 1B_362/2015 vom 10. Dezember 2015 E. 3.2.1; je mit Hinweisen). Abgelehnt werden kann hingegen ein gerichtlich bestellter Experte, der zu einer ähnlichen Thematik und im gleichen Zeitraum bereits ein Gutachten für eine der Parteien erstattet (BGE 125 II 541 E. 4 S. 544-546) oder der selbst Strafantrag gestellt hat bzw. als Geschädigter in Frage kommt (BGE 124 I 34 E. 3d S. 39).
4.5. Inhaltliche oder methodische Kritik einer Partei am forensischen Gutachten führt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes nur in Ausnahmefällen (bzw. bei besonders häufigen oder sehr krassen Fehlern, die sich einseitig zum Nachteil einer Partei auswirken) zum Ausstand der forensischen sachverständigen Person wegen Befangenheit im Sinne von Art. 56 lit. f StPO (zit. Urteil 1B_141/2017 E. 4.5 mit Hinweisen). Der blosse Umstand, dass eine Partei (oder eine vom Gutachten beschwerte verfahrensbeteiligte Person) gewisse Feststellungen des von der Verfahrensleitung bestellten Sachverständigen bestreitet, begründet keinen Ausstandsgrund gegen diesen (BGE 132 V 93 E. 7.2.2 S. 110 f.; Urteil 1B_414/2012 vom 20. September 2012 E. 2.2). Nach Eröffnung einer Strafuntersuchung können die Parteien die ihnen diesbezüglich geboten erscheinenden Beweisanträge stellen (Art. 107 Abs. 1 lit. e und Art. 318 Abs. 1-2 StPO). Angebliche Mängel eines forensischen Gutachtens sind grundsätzlich im gesetzlich vorgesehenen kontradiktorischen Verfahren zu beanstanden (Art. 188-189 StPO; vgl. BGE 144 I 253 E. 3.8 S. 264 mit Hinweisen). Der Beweiswert und die Überzeugungskraft von gutachterlichen Feststellungen unterliegen im Übrigen der Beweiswürdigung durch das erkennende Sachgericht bzw. die Justizbehörde, welche den Endentscheid zu fällen hat (Art. 10 Abs. 2 StPO; vgl. BGE 132 V 93 E. 6.5 S. 108 f.).
Gehen wir auf den Teil „weitgehend festlegte“ bei „Vorberichten“ ein: Berichte und Gutachten sind nicht abschliessend, man könnte immer noch mehr untersuchen. Wird eine sachverständige Person ab Beginn eines Falles als solche ernannt, ergeben sich keine Probleme, wenn mehrere Untersuchungen, Gutachten, Stellungnahmen und Ergänzungsgutachten erstellt werden. Jedoch werden häufig Untersuchungen und in ersten Stellungnahmen – beispielsweise in kurzen Berichten, Briefen, Kostenvoranschlägen etc. – Äusserungen gemacht, bevor wir als sachverständige Person ernannt werden. Das ist kritisch. Deshalb muss in solchen Berichten stets eine relativierende Ergänzung stehen, die das „Festlegen“ relativiert, wie: „Diese Bewertungen sind als eine erste und vorläufige Tendenz zu verstehen und können sich nach vertiefter (weitergehender) Untersuchung grundsätzlich noch ändern.“ Dies zeigt eine Ergebnisoffenheit bei Beginn der gutachterlichen Untersuchung trotz vorausbestehender erster Stellungnahmen resp. Berichte.
Fazit: Gerichte wollen nicht, dass sachverständige Personen (als fachliche Hilfspersonen des Gerichts) eine Befangenheit (oder Voreingenommenheit) aufweisen. Sie sollen eine mögliche Befangenheit sofort bekanntgeben und in den Ausstand treten. Glaubt eine Partei dennoch, die sachverständige Person sei befangen, so muss sie das seit Bekanntwerden innert 10 Tagen eingeben und die objektiven Anscheine der Befangenheit aufzeigen. Dies muss substanziell sein, eine der Partei nicht genehme Meinung reicht nicht aus.
Die innere Befangenheit kann jedoch nicht gemessen werden. Um nicht innerlich trotzdem (ohne Anschein) befangen zu sein, sind Massnahmen gegen „Bias“ anzuwenden, was ein weiteres, grosses Thema ist.
Aus meiner Erfahrung ist Transparenz die wichtigste Qualifikation von Gutachten und Berichten:
Was ist Transparenz?
Transparenz ist das detaillierte Bekanntgeben aller Tätigkeiten und damit involvierter Personen sowie das Offenlegen aller Grundlagen. Inbegriffen sind auch alle Interessensverbindungen des Autors.
Aus Sicht des Kunden (Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Gericht) von Gutachten kann die Leserschaft bei voller Transparenz nur profitieren:
Die Staatsanwaltschaft kann daraus in der Anklageschrift alle Untersuchungshandlungen detailliert beschreiben und weiss, wen sie bei Fragen ansprechen muss.
Das Gericht weiss, wer mit welchem Resultat welche Untersuchungshandlung unternahm und kann die involvierte Person entsprechend befragen (Gutachten, Ergänzungsgutachten, Befragung vor Gericht). Weiter kann das Gericht die Unbefangenheit und Unvoreingenommenheit überprüfend nachvollziehen. Eine tatsächliche Prüfung der Unbefangenheit und Unvoreingenommenheit lässt sich allerdings nicht durchführen. Das wäre ein Thema für einen weiteren Blog.
Insbesondere die Verteidigung und die Zivilklage resp. alle Parteien können aus der Transparenz ihre Angriffspunkte evaluieren und formulieren. Das ist ihr gutes Recht und soll auch so geschehen. Werden Lücken aufgedeckt (Tätigkeiten, Umfang der Untersuchung, involvierte Personen, Abläufe, Unterlassungen etc.) – was völlig normal ist – können die beanstandet werden und das Gericht kann entscheiden, ob darauf eingegangen werden soll. Werden Lücken erfolgreich «ausgeschlachtet», so ist entweder tatsächlich etwas dran oder es handelt sich um einen Verfahrensfehler, der in Zukunft behoben werden soll.
Die sachverständige Person kann nicht alle Detailuntersuchungen für ein Gutachten vollumfänglich durchführen. Dazu fehlt die Zeit resp. das Geld. Also muss sich die sachverständige Person auf gewisse Untersuchungshandlungen beschränken und im Gutachten angeben, welche weitere Auswertemöglichkeiten offenliegen. Mit diesen weiteren Untersuchungshandlungen könnten sich die Befunde und das Verfahren ändern, weshalb die sachverständige Person gut beraten ist, mehrere weitere Auswertungsmöglichkeiten aufzuführen. Damit zeit sie, dass ihr Auftrag limitiert war und dass sie wieder erneut/ergänzend beauftragt werden kann, um weitere Untersuchungen zu tätigen. Somit wird implizit gesagt (bitte nicht tatsächlich so ausführlich formulieren):
«Bis hierhin habe ich im Rahmen der Zeit und des Budgets meine Untersuchungen durchgeführt und die Ergebnisse dargelegt. Es könnte aber auch sein, dass durch weiterführende Untersuchungen neue, wichtige Aspekte zum Vorschein gelangen. Solche weiterführenden Untersuchungen können (bei mir oder bei einer anderen sachverständigen Person) kostenpflichtig in Auftrag gebracht werden, sofern sich die Verfahrensleitung dazu entscheidet. Also ist meine Bewertung nur im beschriebenen Rahmen abschliessend, Darüber hinaus könnten sich weitere Wahrheiten/Beweise eröffnen, von denen ich mit meinen bisherigen Untersuchungen noch keine Kenntnis habe. Deshalb ist meine Bewertung nur im Rahmen der genannten Grundlagen und Untersuchungshandlungen gültig.»
Denken wir in die andere Richtung: Intransparente Gutachten verschweigen Untersuchungshandlungen, die nicht erfolgreich waren, die andere Ergebnisse lieferten, die nicht den anerkannten Regeln der Wissenschaft und Technik entsprachen und deshalb nicht valide sind, die tendenziös sind (etwas Bestimmtes zeigen wollen) etc. Intransparente Gutachten verschweigen Gründe, weshalb etwas so und nicht anders untersucht wurde, oder sie verschweigen die Grundlagen von Bewertungen: «Es ist klar, dass», «aus Erfahrung zeigt sich, dass», «sollte», «es ist allgemein bekannt, dass» und ähnlich Formulierungen verbergen die eigentlichen Grundlagen und präzisen Gedankengänge, weshalb die sachverständige Person die eine und nicht die andere Schlussfolgerung zieht. Bessere Formulierungen wären beispielsweise: «Aufgrund unserer internen Datenbank [kann editiert werden], ermittelten wir eine Seltenheit solcher Befunde von ca. 1 zu 1'000. Unsere Datenbank umfasst etwa 3’500 Analysen ähnlicher Ereignisse aus den letzten 20 Jahren, wobei anzumerken ist, dass sich die Basisfrequenzen in den letzten Jahren änderten. Aber auch bei Betrachtung nur der letzten 5 Jahre ergibt sich eine ähnliche Seltenheit (1 zu 780), die aber aufgrund der geringeren Menge mit mehr Unsicherheit verbunden ist. Ein solcher Befund wäre also als Zufall resp. aus einer anderen Quelle mit entsprechender Seltenheit zu erwarten.»
Die Gerichte mögen keine Überraschungen: Es tauchen im Verlaufe der Verfahren oft neue Erkenntnisse auf. Es wäre für die sachverständige Person höchst unvorteilhaft, wenn «plötzlich» nicht beschriebene, wichtige Details aus der Begutachtung auftauchen.
Am meisten nützt die Transparenz der schreibenden sachverständigen Person: Durch das genaue aufschreiben aller Tätigkeiten und Grundlagen sowie aller Gedankengänge werden oftmals Zusammenhänge klarer: Sie sind also erst beim genauen Beschreiben klar(er) geworden. Leider etwas spät, nämlich erst beim Schreiben. Aber besser spät als nie. Falls der Bericht oder das Gutachten übersetzt wird, treten durchaus noch neue, unentdeckte Unklarheiten auf: Die übersetzende Person muss genau wissen, was gemeint ist, um es auch korrekt übersetzen zu können und macht Rückfragen beim Autor, der sich wundert, dass ihm die nicht vollumfänglich präzise Formulierung erst jetzt auffällt.